
Während der Normenstaat sich durch die Befolgung seiner eigenen Gesetze auszeichnet, regiert der Maßnahmenstaat gleichzeitig in den Lauf der Justiz hinein. Was Ernst Fraenkel seinerzeit anhand eines Extremfalls beschrieb, ist – wie wir nicht erst seit Giorgio Agamben zu ahnen beginnen – in milderer Form auch heute noch und in den besten pluralistischen Systemen anzutreffen.
Ein Beispiel für den Konflikt zwischen Normen- und Maßnahmenstaat aus der jüngsten Vergangenheit ist der Fall der Familie Tinner. Vater Friedrich und seine beiden Söhne Urs und Marco verstießen gegen einige Strafgesetze, als sie, wie die New York Times am 24.12.2010 auf Seite 1 und 8 berichtete, dem pakistanischen Atomphysiker A.Q. Khan bei dem Aufbau eines atomaren Schmugglerrings behilflich waren. Die schweizer Justiz ermittelte, wie es ihre Pflicht war, und wollte dann auch Anklage erheben …
Doch dann kam der Maßnahmestaat in Form der US-Regierung unter George W. Bush dazwischen. Man „went to extraordinary lengths to protect the men from prosecution, even persuading Swiss authorities to destroy equipment and information found on their computers and in their homes and businesses“ (S. 1). In dem Buch „Fallout“ beschreibt Catherine Collins zusammen mit Douglas Frantz (2011), wie die CIA – für die die Tinner-Family ebenfalls tätig war – alles mögliche unternahm, um den Gang der Ermittlungen zu erschweren. Condoleezza Rice „lobbied Swiss officials to drop their investigation“. Die CIA brach 2003 in die Wohnung der Tinners ein .. Ende 2007 erklärte sich die Schweizer Regierung unter dem starken Druck der US-Regierung bereit, „to drop legal proceedings on espionage charges“. 2008 kamen weitere Ermittlungen wegen anderer Delikte nur im Schneckentempo voran, weil die Regierung in Bern wiederum auf US-Druck hin „an enormous trove of computer files and other material documenting the business dealings of the atomic family“ zerstört hatte – eine Aktion, die zu einem Aufschrei im Schweizer Parlament geführt hatte, weil sie den Normenstaat als Opfer des Maßnahmenstaates vorgeführt hatte.
Erst als 2008 39 Dokumente gefunden wurden, die eigentlich hätten zerstört werden sollen, gab es doch genügend Material, um Ermittlungen wieder aufzunehmen. Richter Andreas Müller empfahl daher am Donnerstag vor Weihnachten 2010, doch noch Anklage zu erheben.
Dieser Fall zeigt, dass der Ausgang von Konflikten zwischen dem Normen- und dem Maßnahmenstaat nicht prädeterminiert ist. Mal kann es so ausgehen, mal so. Das ist das weihnachtliche Element an dieser Geschichte.