Es ist selten, dass mich über den Criminologia Blog Presseanfragen erreichen. Und so war ich auch einigermaßen überrascht, am Dienstag vergangener Woche eine Einladung zu einem Pressegespräch mit RTL II in Berlin zu erhalten.
RTL II – an und für sich eher bekannt für Trash- und Oben-Ohne-TV – plane ein innovatives und gesellschaftlich relevantes TV-Format, das am Donnerstag Morgen von der Gattin des Verteidigungsministers, Stephanie zu Guttenberg, und dem ehemaligen Hamburger Polizeipräsidenten und Innensenator, Udo Nagel, vorgestellt werden soll – so war die Einladung zum Pressegespräch zu lesen.
Um es kurz zu machen: Ich bin der Einladung nach Berlin nicht gefolgt. Ganz im Gegensatz zu Vertretern der Springer-Presse, die dem in Berlin vorgestellten innovativen, investigativen gesellschaftlich relevanten TV-Format eine halbe Titelseite in der Ausgabe vom Donnerstag widmeten. Dort war (sachlich falsch) zu lesen:
Minister-Gattin ab heute auf RTL2. Stephanie zu Guttenberg ja Kinderschänder im TV!
In dem Artikel ist zu lesen, dass bis zu einer halben Million Pädophiler, die Anonymität des Internet nutzten, um hier potentielle Opfer zu finden. RTL II dokumentiert in der Sendung „Tatort Internet – Schützt endlich unsere Kinder“ die Versuche erwachsener Männer Kontakt zu Minderjährigen über Internet-Chats aufzunehmen. Eine (volljährige) Schauspielerin spielt hierbei den Lockvogel und gibt sich als 13-jähriges Mädchen aus. Wird ein Treffen zwischen der vermeintlich Minderjährigen und dem erwachsenen Chatpartner vereinbart, lauert ein Kamerateam dem Mann auf und wird im dramaturgischen Finale der Sendung von der Redakteurin Frau Krafft-Schöning zur Rede gestellt (zur TV-Kritik und Dramaturgie des Sendeformats siehe auch hier). Chatprotokolle und Filmmaterial werden im Anschluss den Behörden übergeben.
Die Sendereihe Tatort Internet wolle „Menschen sensibler dafür machen , wie groß die Gefahr von sexueller Anmache und Missbrauch im Internet für unsere Kinder ist.“ – so Frau zu Guttenberg gegenüber der BILD Zeitung. Die Minister-Gattin fordert zudem, dass
auch die Anmache von Kindern, das Sich-Ranmachen – Fachleute sprechen von ‚grooming‘ – strafbar wird. Andererseits, […] dass die bestehenden Gesetze endlich ausgeschöpft werden.
Udo Nagel, der als Moderator der Sendung fungiert, fordert gegenüber der Bildzeitung indes eine Mindeststrafe von einem Jahr für Fälle des sexuellen Missbrauchs, denn „nur so könnten Sexverbrecher abgeschreckt werden“. Bisher kämen „die meisten Täter ohne Anklage oder mit Bewährungsstrafen von wenigen Monaten davon. Oder mit einer Geldstrafe – nach dem Motto: bis zum nächsten Mal.“
Die Sendung Tatort Internet ist keineswegs ein so innovatives Konzept wie RTL II behauptet. Allerdings tut der Privatsender vermutlich gut daran,die amerikanische Sendung „Catch a Predator„, die hier ganz offensichtlich Pate stand, nicht zu erwähnen. Anders als in den jetzt in Deutschland ausgestrahlten Folgen, waren in der amerikanischen Serie Gesicht und Stimme der vermeintlichen Pädophilen nicht unkenntlich gemacht. Nach dem Selbstmord eines Beschuldigten wurde die Sendung 2007 in den USA abgesetzt.
Nach Angaben bei Spiegel Online sah sich RTL II zudem zu einer Vorverlegung des Serienstarts genötigt, um möglichen einstweiligen Verfügungen durch die gefilmten Männer zuvorzukommen. Zum Serienstart am Donnerstag um 20:15 musste daher die RTL II -Reportage „Grenzenlos geil – Deutschlands Sexsüchtige packen aus“ kurzfristig entfallen (siehe hier). Weitere neun Sendungen von Tatort Internet sollen jeweils montags ab 20:15 Uhr folgen.
Nicht nur die Unschuld möglicher Missbrauchsopfer, sondern ebenso die Unschuldsvermutung scheint mit dieser deutschlandweiten Zurschaustellung in Gefahr zu raten. Verpixeltes Gesicht und verfälschte Stimme ändern nichts an der Tatsache, dass hier eine Vorverurteilung durch einen privaten Fernsehsender stattfindet, der in erheblichem Maß die Menschenwürde der Beschuldigten tangiert. Auch angesichts der moralischen Verwerflichkeit der (geplanten) Taten ist diese Form der medialen Steinigung durch die Öffentlichkeit inakzeptabel.
Zudem ist fragwürdig, ob es sich tatsächlich – wie Udo Nagel behauptet – um eine zielgruppengerechte Prävention (siehe hier) handelt – so sieht es auch eine Spiegel Redakteurin, die gar von einem skandalösen Format spricht. Anstatt über real existierende Gefahren aufzuklären und Schutzmöglichkeiten aufzuzeigen, findet ausschließlich eine Konzentration auf die Täter statt. Die Tatsache, dass 90% aller Missbrauchsfälle Täter und Opfer einander vorab bekannt waren, wird in der Sendung verschwiegen (wenngleich diese Information auf der Internetseite zur Sendung Erwähnung findet). Und einmal mehr präsentiert sich ein Privatsender als allwissende Instanz sozialer Probleme und gibt ein ein nicht einlösbares Versprechen ab, erzieherische Aufgaben im Elternhaus und staatliches Schutzversprechen zu übernehmen. Das alles geschieht auf Kosten einer Moralpanik, die konstruktiven Lösungsansätzen mit Sicherheit nicht förderlich ist. Dass eine Minister-Gattin als auch ein ehemaliger Polizeipräsident und Innensenator Ihr gesellschaftliches Ansehen für die Steigerung von Einschaltquoten aufs Spiel setzen, ist traurig.
Weitere Informationen zum Beitrag
- Die offizielle Internetseite zur Sendung Tatort Internet – Schützt endlich unsere Kinder!
- Internetseite von Innocence in Danger
Der Trailer zur Sendung
https://www.youtube.com/watch?v=FYKxXzexBPQ
[YouTube Direktlink]
MaxR schreibt
Das ist wirklich nicht neu – bei Monty Python hieß die Sendung noch „blackmail“ und der Betroffene konnte durch rechtzeitige Spende die Ausstrahlung verhindern bzw abbrechen.
Grace schreibt
Ein weiterer Kritikpunkt an diese Art „Täter“ zu fangen, ist dass die hier bloßgestellten Männer ohne das Format nicht zwangsweise zu solchen geworden wären. Die Leute, die ein Interesse daran haben Paniken über „Cyberpredators“ voranzutreiben (zum Beispiel um ein TV-Format zu verkaufen) lassen den Eindruck entstehen, die Männer die bei solchen Shows vorgeführt werden, seien Teil der 500.000 Pädophiler (würd mich interessieren wie diese Zahl erhoben worden ist) die aktiv im Internet nach Kindern suchen, die sie missbrauchen können. Impliziert wird damit, dass sie, wären sie nicht auf RTL II reingefallen, ein anderes Opfer gesucht und missbraucht hätten.
Dabei wird jedoch verschwiegen, dass die „Lockvögel“ aktiv nach Partnern in Chatrooms suchen und dort selber eine Art „Grooming“ betreiben. Barry Glassner beschreibt in „Cultur of Fear“ die Taktiken des FBI, die sich mit Namen wie „Horny15bi“ mit Mottos wie „vice is nice but incest is best“ Männer anchatten und sich mit ihnen verabreden. Die Lockvögel verhalten sich also aktiv und bieten sich selber an. Dazu schreiben sie, sie hätten schon viel Erfahrung mit älteren Männern und würden Sex lieben. Ich gehe mal davon aus, dass die Taktiken von RTL II nicht weniger agressiv sind. Von einer besonderen moralischen Standfestigkeit ist bei den Männern die auf diese Weise haben verführen lassen, wahrscheinlich nicht auszugehen. Davon, dass die Welt besser und Deutschlands Kinder sicherer werden, wenn hier Männer an den Pranger gestellt werden, die ohne solch eine Provokation nie selber aktiv geworden wären, allerdings auch nicht.
Grace schreibt
Gerad hab ich auf der Wiki-Seite von „Catch a Predator“ das hier gefunden: „when a TV show makes you feel sorry for potential child-rapists, you know it’s doing something wrong“ (Charlie Brooker)
Das trifft es auch…
Christian Wickert schreibt
Ich bin eben noch auf einen etwas älteren aber nach wie vor lesenswerten Artikel in der Süddeutschen gestoßen: Kindesmissbrauch. Mitten am Rand (17.04.2009).
Neben Münchener LKA-Beamten aus der Abteilung Netzwerkfahndung, einem Psychiater an der Berliner Charité wird hier auch die Psychologin Frau Julia von Weiler porträtiert. Als Geschäftsführerin von „Innocence in Danger“ gehört sie dem „Expertenteam“ von RTL2 an.
Wenn ich mir auch nur ansatzweise vorzustellen versuche, mit welchen Bildern und Geschichten Menschen wie Frau von Weiler tagein, tagaus konfrontiert werden, kann ich nachvollziehen, dass die öffentlichkeitswirksame Aktion von RTL2 unterstützenswert erscheint.
An meiner Verständnislosigkeit für die Programmverantwortlichen, diese Idee tatsächlich umzusetzen und auszustrahlen, ändert sich indes nichts.
Christian Unger (h.c.) schreibt
So, jetzt komm ich auch mal dazu, ein paar Anmerkungen aus der Sicht der Sexualwissenschaft zu schreiben. Ich habe mich nämlich passenderweise mit einem der führenden Sexualwissenschaftler in Deutschland kurz bevor es diese Ausstrahlung gab, ein mal über die Konditionierung des Sexualverhalten, und zweitens über die Frage „sexuelle Orientierung“, „sexuelle Ausrichtung“, „sexuelle Präferenz“.
1.) „Pädophilie“
Ich weiß ja dass Kampfbegriffe immer in sind, fernab jeglicher Realität. Wir haben hier aber eine 18jährige die sich für 13 ausgibt – welche Rolle spielt das (ANGEBLICHE) Alter für die sexuelle Orientierung/Ausrichtung/Präferenz? Eine geringe bis gar keine – sexuelles Interesse geht nach Äußerlichkeiten. Und dort ist diese „13“jährige eben alles andere als ein Kind. Was wir hier fast ausschließlich haben sind kicksuchende Hetero- und Homosexuelle. Bei einer Penisplethysmographie würde sich bei denen wohl kaum etwas bei Kindern „regen“ (Anm.: Ca. 25% aller Männer reagieren sexuell dort auf Kinder, 20% aller einschlägigen Täter aber ÜBERHAUPT nicht).
2.) „Prävention“
RTLII tut so, als ob dieses Format ein Beitrag zur Prävention sei. Das sehe ich ganz und gar nicht so. Man muss sich vorstellen, dass dort (rechtliche) Kinder als übermäßig sexuell interessiert dargestellt werden. Das bestätigt die kicksuchenden (und ggf. auch die pädophilen) Personen in ihrer vorhandenen Meinung unterstützen und ihren Tatentschluß erst hervorrufen oder bekräftigen. Es werden ja eh nicht alle erwischt, sondern wohl nur ein Bruchteil. Die anderen werden bestätigt – und was passiert, wenn diese dann mal auf eine echte 13jährige kommen? Sie werden die Tat eher begehen. Zudem wird nur auf Schock gesetzt, was eher Angst als Vorsicht hervor ruft. Angst ist aber falsch, da sie die Aufmerksamkeit bündelt und nichts anderes heranlässt.
3.) „Aufklärung“
RTLII möchte auch Aufklärung betreiben. Ergebnis: Mies. Freundlich formuliert. Es hat nichts mit Aufklärung, sondern nur mit Schock zu tun. Diese Herumschockerei wird Angst produzieren, nicht aber Vorsicht.
Allein dass RTLII sich versucht zu erklären, dass ja auch das Internet zum „sozialen Nahraum“ gehöre, ist absoluter Schwachsinn: Unter diesem sozialem Nahraum, wo die weitaus meisten Taten passieren, werden bloße Chatbekanntschaften eben NICHT subsumiert.
4.) Persönlichkeitsrechte
Zwar wird angeblich auf die Persönlichkeitsrechte geachtet. Aber anhand gewisser äußerlicher Eigenheiten wie auch bei der Formulierung lassen sich dennoch durchaus Personen erkennen. Und damit auch Familienmitglieder und der soziale Nahraum.
5.) „Anzeigen“
Zwar mag man vielen einen Tatentschluß unterstellen können, ein Tatentschluß ist aber nicht strafrechtlich belangbar. Erst ab dem Status „Versuch“ ist u.U. etwas strafbar. Selbst wenn es hier einen Versuch geben könnte wäre dieser reichlich untauglich.
Fazit: Bestenfalls wirkt dieses Format nicht schädigend, verbessert wird dadurch m.E. nichts.
MfG
Christian Unger (FDP/DGSS)
Laura N schreibt
Ich kann mich irren, aber soweit ich weiß gibt es in Deutschland , anders als in den USA, keine ausreichende Rechtsgrundlage, die eine Verurteilung aufgrund eines fingierten Groomings zulässt, selbst wenn es zu einem „Versuch“ im Sinne einer Kontaktaufnahme kommt. Insofern kann von „Kinderschänder jagen“ keine Rede sein. Vereine wie Zartbitter verwenden die gleiche Taktik schon seit Jahren um auf die Risiken für Kinder und Jugendliche in Chat-Räumen aufmerksam zu machen. Es ist üblich, dass sich hier SozialarbeiterInnen als Jugendliche „getarnt“ in Chat-Räumen einloggen, und die dadurch entstandenen Protokolle im Rahmen von Präventionsarbeit verwenden. Hier zeigt sich auch, dass es nicht „reine“ Provokation von Seiten von der SozialarbeiterInnen ist, die die Tätigkeit Pädosexueller im Internet aufzeigt – selbst wenn keine Nicknames wie horny15bi verwendet werden usw., ist es vergleichsweise „leicht“, in Chaträumen für Kinder und Jugendliche in sexualisierte Gespräche verwickelt zu werden – es fängt schon mit der berechtigten Frage an, warum Erwachsene sich überhaupt in Chaträume für Kinder und Jugendliche oder Social Networks wie Schüler VZ einloggen. Es ist natürlich schwierig , zu beurteilen, ob ein/e erwachsene/r Sozialarbeiter/in genauso agieren würde wie ein Jugendlicher oder ein Kind in einer vergleichbaren Situation – d.h. , z.B., dass sich der/die SozialarbeiterIn in einem solchen Chat-Kontakt auf eine Art und Weise verhält, die für das Gegenüber den Eindruck erwecken könnte, es handelt sich um ein sexuelles Rollenspiel unter Erwachsenen – einer der Gründe, warum eine Verurteilung rechtlich nicht möglich ist. Es wäre meiner Meinung nach falsch, eine solche Präventionsarbeit, die wichtig und richtig ist, gleichzusetzen mit dem, was hier auf RTL II passiert. Denn in der Präventionsarbeit geht es nicht um das möglichst reißerische „Bloßstellen“ von Tätern und Täterinnen, sondern um die Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen, damit diese bedenkliche Kontaktaufnahmen rechtzeitig als solche erkennen und Strategien lernen, sich vor solchen zu schützen.
Wie hier bereits gesagt wurde, geht es in der besagten Sendung doch anscheinend nicht um Präventionsarbeit oder Aufklärung in irgendeinem Sinn, sondern um dem Konsum spektakulärer Kriminalität, die sich deswegen so leicht für solche Zwecke instrumentalisieren lässt, weil sie sich so wunderbar loslösen lässt von allem, was gemeinhin mit „Normalität“ in Verbindung gebracht wird: ähnlich wie der/die fremde TäterIn, der/die Kindern nach der Schule auflauert, handelt es sich hier um zweifellos existierende, aber dennoch extreme Beispiele von sexualisierter Gewalt – und entsprechend haben solche Taten für die wenigsten Menschen Gemeinsamkeiten mit dem eigenen Verhalten und eignen sich somit gut als Projektionsfläche für kollektiven Hass. Solange es den bösen, anonymen Kinderschänder gibt, der im Internet Kindern und Jugendliche nachstellt, besteht keine Notwendigkeit, sich mit eigenen bedenklichen Vorstellungen von Sexualität auseinanderzusetzen, wobei es sicherlich kein Geheimnis ist, dass der größte Teil sexualisierter Gewalt gegenüber Kinder und Jugendlichen in privaten Zusammenhängen stattfindet. In der Sendung geht es doch letztlich darum, dass sich Zuschauer ihrer eigenen moralischen Überlegenheit versichern können, wenn im TV pathologische kranke Kinderschänder von RTL II „gejagt“ werden, die einzig und allein als Bedrohung von „außen“ konstruiert werden, und in keinster Weise Ähnlichkeiten mit der „normalen“ Bevölkerung besitzen. So ein Konsum sexualisierter Gewalt ist nicht nur höchst bedenklich, sondern auch vom Präventionsgedanken her schlicht kontraproduktiv.
Hans schreibt
Ein sehr interessanter und mit vielen Facetten angereicherter Artikel. Ich kann es mir nicht verkneifen, den Artikel von Herrn Unger mit folgendem Link zu unterfüttern:
http://www.vdeutschland.de/thread.php?postid=810639
V.G. Hans