Biopolitik par excellence – Ökonomie des Regierens
Thilo Sarrazin inszeniert in seinem neuen Buch den Generalverdacht gegenüber muslimischen Einwandererfamilien. Einwanderer würden einen (von noch niemandem gesehenen) „gesamtdeutschen Intelligenzdurchschnitt“ reduzieren. Sarrazin koppelt seine ‚Thesen‘ an eine biopolitische Aufgabe des Staates den Bevölkerungskörper zu normalisieren und zu regulieren.
„Die unqualifizierte Migration, die wir gegenwärtig haben, und die Migration des ungebildeten, unqualifizierten Familiennachzugs, das kann in dieser Form nicht weitergehen“, meine Sarrazin am Dienstag gegenüber dem Deutschlandradio Kultur. „Für die Gesamtheit der muslimischen Einwanderung in Deutschland gilt die statistische Wahrheit: In der Summe haben sie uns sozial und auch finanziell wesentlich mehr gekostet, als sie uns wirtschaftlich gebracht haben.“
In seinem Buch „Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ zeigt Thilo Sarrazin die Prinzipien, bereits etablierter, biopolitischer Regierungsweisen auf. Mit der von ihm in Szene gesetzten ‚Sorge um die deutsche Bevölkerung’ geht eine Forderung nach einer ‚biopolitischen Verwaltung des Lebens‘ (Foucault) einher. Dieser Wunsch des Regierens zeigt sich nicht nur negativ und restriktiv in unterschiedlichen rassistischen Ausprägungen Sarrazins. Diese vermeintliche Sorge schafft gleichsam produktiv eine Responsibilisierungsstrategie des Einzelnen gegenüber eines statistisch erfassten, durchschnittlichen Bevölkerungskörpers und bietet eine rares ‚Gut‘ – ex negativo – an: die kollektive Identifizierung. Die Dummen und die Gefahr – das sind nicht „wir“ das sind „die Anderen“.
Zu den Dummen zählt er jene, Einwanderer „aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika“, die er als Gefährder/innen des deutschen Bevölkerungskörpers („Deutschland schafft sich ab“) imaginiert. Welche biopolitische Macht er hier ganz bestimmten Minderheiten zugespricht, ist verdächtig.
Auf diesem Wege können, auf der Grundlage eines vermeintlichen des Bevölkerungsschutzes, Staatsbürgerrechte von Eingewanderten und Menschen die Transferleistungen erhalten, neu verhandelt bzw. reversibel gemacht werden. Foucault hat die politische Tragweite einer Strategie der „Verteidigung der Gesellschaft“ (Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesung am College de France, 1975–1976) aufgezeigt.
Sarrazins Argumentation ist mehr als rassistisch und diskriminierend.
Als Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank, dort zuständig für „Risiko-Controlling“, weiß Sarrazin die bestehenden ökonomischen Ungleichheiten, die damit verbundenen Unsicherheiten und Ängste, die Misere des Bildungswesens, der Migrations- und Sozialpolitik als Risiko darzustellen, sodass die Mitglieder einer Gesellschaft füreinander Risikofaktoren – potenzielle Gefährder – darstellen.
Gegen „Deutschland schafft sich ab“ liest sich hervorragend das politische Bilderbuch „Deutschland macht dicht“ (2010) – ein Roman von Dietmar Dath.
Verwendete Internet Quellen
- http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,713605,00.html
- http://www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~E04751D5328504D6CB13AE89D3D9E99F6~ATpl~Ecommon~Scontent.html
- http://de.wikipedia.org/wiki/Thilo_Sarrazin#Mitglied_des_Vorstands_der_Deutschen_Bundesbank
- http://www.suhrkamp.de/buecher/deutschland_macht_dicht-dietmar_dath_42163.html
„Sarrazins Argumentation ist mehr als rassistisch und diskriminierend“
Mag sein. Vielmehr interessant ist jedoch, ob die sich hinter den provokanten Thesen stehenden Aussagen denn widerlegen lassen.
Und noch interessanter ist: entsteht in Europa eine antimuslimische Bewegung weil sich eben überhaupt nicht mit den Schwierigkeiten, die das Zusammentreffen des Islams mit anderen Religionen bereitet argumentativ auseinandergesetzt wurde?
Das ein Sarrazin mit seinen Thesen eine derart große Öffentlichkeit schafft ist mE der Beleg dafür, dass in der Vergangenheit das Thema „Multikulti“ zu naiv, beinahe kindlich naiv, angegangen wurde. Auch das in den bislang als sehr tolerant geltenden Niederlanden Wilders starken Rückhalt erfährt bestätigt, dass diese Thematik kein deutsche Besonderheit ist.
Sehr interessante Entwicklung, sicherlich auch in kriminologischer Hinsicht – da schlägt ja nun Kirsten Heisigs Buch eine Brücke.
“Sarrazins Argumentation ist mehr als rassistisch und diskriminierend”
Dieses „mehr als“ ist sehr polemisch. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass
manche Linksorientierten Personen in Deutschland, insbesondere die Medien Herrn Sarazzin in die extreme rechte Ecke drängen möchten.
Die Meinung von Herrm Sarazzin findet unter den Deutschen aber gar nicht so wenig Konsens, wie man meinen möchte. Lediglich nicht jeder
äussert sich offen zu dem Thema, aus Angst, ebenso wie Herr Sarazzin in das rechte, politische Eck abgeschoben zu werden.
Guten Tag Peter Horstmann und Herr Bullmann
Das sehe ich nicht, dass es eines empirischen Beweises dafür Bedarf.
Es ist doch eine politische Frage, keine empirische.
Für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Islam (viel besser wäre m.E. eine Religionskritik) braucht es keine prozentualen (Schuld-)Zuschreibungen.
Wenn jemand den Untergang des Abendlandes als Motiv seiner Islamkritik aufführt, finde ich das überheblich und chauvinistisch.
Eine Islamkritik ist m.E. notwendig und da angebracht, wo der Islam als Ideologie seine Unterdrückungs- und Entrechtungsverhältnisse legitimiert (wie andere Religionen das auch praktizieren).
Eine pauschale Diffamierung von Muslimen, die zum Teil islamisiert werden, halte ich für gefährlich. Genau an dieser Stelle würde ich differenzieren.
Es gibt Probleme, die empirisch betrachtet, mit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe in Verbindung zu bringen sind. Mit Muslimen empirisch verknüpft sind die verweigerte Gleichberechtigung der Frauen und die mangelnde Bildung der Kinder sowie eine Anzahl an Obst- und Gemüseläden.
Doch es geht Sarrazin m.E. nicht um den Islam als Religion oder Ideologie. Es geht ihm um Bevölkerungsgruppen, in diesem Fall Muslime und das in einem rein okonomischen Sinne, was ich als „Biopolitik der Bevölkerung“ markiert habe.
Aus diesem Grund habe ich in meinem Beitrag das „mehr als“ tatsächlich polemisch genutzt um über den klassischen Rassismusvorwurf (siehe Siegmar Gabriel, SPD) der ihm gemacht wird, hinaus zu verweisen.
Sarrazin findet auch deshalb breite Zustimmung, weil das, was er sagt evident ist. Ja, es läuft was schief.
Sarrazin argumentiert in einem Bereich, indem er den Wert eines Menschen an seinem Nutzen für die Gesellschaft/Bevölkerung misst. Dahin geht meine Kritik. Sarrazin verweist mit großer Wirkung auf reale Probleme in Europa, in der Bildung und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Seine Darstellung – dies als Bedrohung für „Schlaand“ darzustellen – ist mehr als fragwürdig.
Sarrazin gilt als Tabubrecher (BILD) und diese Art der „Befreiung“, nun endlich über das Aussterben der Deutschen, über den Geburtenrückgang sprechen zu dürfen mutet, bei einer Weltbevölkerung, die die 6-Milliarden-Grenze überschritten hat, seltsam an. Lange schon wird über das Thema Bevölkerung, Migration etc…. berichtet und aufgeklärt, nur eben nicht so personalisiert prominent und provokant.
Vgl. ganz traditionell die Bundeszentrale für politische Bildung
http://www.bpb.de/die_bpb/WYYDF3,3,0,Bev%F6lkerungswachstum.html#art3
@Gisela
Vielen Dank für den gelungenen Beitrag.
@Herr Bullmann
„Sehr problematisch“ finde ich, dass durch Herrn Sarrazin und mit Hilfe einschlägiger Medien, extrem diskriminierende Kategorisierungen wieder salonfähig gemacht werden. Sogar auf dieser Plattform wird dieser populistische Narzist in Schutz genommen und eindeutig menschenfeindliche Äusserungen als mutiger/notwendiger Vorstoß inszeniert.Ein offener Dialog zur Lösung unserer gesellschaftlichen Konflikte ist dringend notwendig, diesen erreichen wir aber nicht durch Wortführer wie Herrn Sarrazin.
Die Initiative des Netzwerks Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung hat einen Aufruf unter dem Titel
„Demokratie statt Integration“ der Ihrer Website
http://www.demokratie-statt-integration.kritnet.org/ veröffentlicht.
Hier ein Vorgeschmack auf den Inhalt:
„Die Bundesbank ist Thilo Sarrazin los. Damit ist die Geschichte aber längst nicht vorbei. Denn beunruhigend sind nicht allein die populistischen Thesen dieses Bankiers, beunruhigend ist vielmehr die Plausibilität, die seinen Ausführungen zugestanden wird. Eine erstaunliche Anzahl von PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und MeinungsmacherInnen sind sich einig: Der Sarrazin’sche Biologismus hat zwar in Deutschland einen besonderen Hautgout, im Kern aber habe der Mann doch Recht. Nicht wenige feiern den ehemaligen Finanzsenator Berlins als Tabubrecher mit visionärem Blick für Deutschlands Zukunft. Wir fragen: welches Tabu? Die Skandalisierung der Migration gehört zum Standardrepertoire in Deutschland. Es ist sinnlos, den infamen Behauptungen von Sarrazin et al. wissenschaftliche Fakten entgegenstellen zu wollen, um zu beweisen, was MigrantInnen „wirklich“ tun oder lassen…..“
Quelle: http://www.demokratie-statt-integration.kritnet.org/