Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat dieser Tage den Forschungsbericht zur repräsentativen Schülerbefragung zur Gewalterfahrung, Integration und Medienkonsum:
Dirk Baier, Christian Pfeiffer, Susann Rabold, Julia Simonsen und Cathleen Kappes (2010): Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum
Zweiter Bericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN
Deutschlandweit repräsentative Schülerbefragung 2007/2008
(KFN Forschungsbericht Nr. 109)
Der vollständige Bericht, wie auch eine Kurzfassung ist auf der Seite des Kriminologischen Forschungsinstituts verfügbar.
Nach dem Forschungsbericht 2009 (hier die entsprechende Meldung auf Criminologia) ist die jetzt vorgelegte Publikation, die zweite Veröffentlichung, die auf den Ergebnissen einer Repräsentativerhebung von knapp 45.000 Schülerinnen und Schülern aus 61 Städten und Landkreisen beruht.In der Dunkelfeldbefragung wurden Kinder der 4. und 9. Jahrgangsstufe aller Schulformen interviewt.
Während der erste Forschungsbericht den Schwerpunkt auf die Gewalterfahrungen Jugendlicher legte, steht der zweite Forschungsbericht im Fokus vier größerer Themenbereiche:
- Zusammenhang von Gewalterfahrung und Medienkonsum
- Integration von Migranten und Gewaltbereitschaft
- Religion und delinquentes Verhalten
- Einfluss von (schulischer) Gewaltprävention
Zunächst einmal ist auffällig, dass in der öffentlichen Debatte Dreiviertel der Inhalte nicht/ kaum rezipiert werden. Stattdessen finden sich zahlreiche Berichte und Äußerungen zum Zusammenhang zwischen der religiösen Zugehörigkeit, dem Maß an Religiosität und dem delinquenten Verhalten.
Jedem Erstsemester der Soziologie kommen bei diesen Schlagworten vermutlich sofort Durkheims Suizid-Studie oder aber kriminologische Kontroll- und Bindungstheorien in den Sinn (z.B. Travis Hirschi, 1969, Causes of Delinquency). Sowohl in Durkheims Anomiekonzept als auch bei Hirschis Kontrolltheorie wird Religiosität als ein protektiver Faktor angesehen. Die Institution Kirche bindet den potentiellen Delinquenten an die Glaubens- und Wertegemeinschaft und bietet neben der Schule, dem Elternhaus eine weitere normenkonforme Sozialisationsinstanz – so die Argumentationslinie der Theorien. Hirschis Thesen richten sich damit auch explizit gegen die Theorie der differentiellen Kontakte von Edwin Sutherland. Während Sutherland (delinquenten) jugendlichen Subkulturen einen großen Einfluss auf die Sozialisation Jugendlicher eingesteht, vertritt Hirschi hingegen die Ansicht, dass Jugendliche die Nähe zu delinquenten Subkulturen erst gar nicht suchen würden, so lange die gesellschaftlichen Bindungen an normenkonforme Gruppen und Institutionen nur stark genug wären. Auch wenn diese beiden Autoren natürlich mittlerweile zu den Klassikern der Soziologie avanciert sind und gemeinhin nur noch in Geschichtsbüchern zu kriminologischen Theorien Erwähnung finden, so beanspruchen ihre Aussagen gemeinhin bis heute Gültigkeit. Es kommt also schon einer kleineren Sensation gleich, wenn es in der Kurzfassung des jetzt veröffentlichten Forschungsberichtes heißt: Fu?r junge Muslime geht dagegen die zunehmende Bindung an ihre Religion mit einem Anstieg der Gewalt einher (Christian Pfeiffer, Dirk Baier: Religion, Integration und Delinquenz junger Menschen in Deutschland, 2010).
Bereits im Vorfeld der offiziellen Veröffentlichung berichteten einige Medien über den im Forschungsbericht formulierten Zusammenhang zwischen religiöser Bindung und Gewaltbereitschaft. Unter reißerischen Überschriften wie „Die Faust zum Gebet“ (Süddeutsche Zeitung), „Allah macht hart“ (Der Tagesspiegel) und „Jung, muslimisch, brutal“ (Spiegel Online) ist nachzulesen, dass männliche, türkische Jugendliche, die sich selbst als „sehr religiös“ bezeichnen, gewaltbereiter sind als Jugendliche mit nicht-islamischer Religionszugehörigkeit.
Dieser Zusammenhang kommt im Forschungsbericht folgendermaßen zur Sprache:
Für islamische Jugendliche zeigt sich im Ausgangsmodell ein zu den christlichen und „anderen“ Jugendlichen entgegengesetzten Effekt: Mit stärkerer religiöser Bindung steigt die Gewaltbereitschaft tendenziell an. Da dieser Zusammenhang aber als nicht signifikant ausgewiesen wird, ist bei islamischen Jugendlichen von keinem unmittelbaren Zusammenhang (und damit auch nicht von einem Gewalt reduzierenden Zusammenhang) zwischen Religiosität und der Gewaltdelinquenz auszugehen. Zu beachten ist allerdings Folgendes: Bei den christlichen Jugendlichen (bei den Deutschen wie bei den Migranten) kann von einem über bestimmte Faktoren (Männlichkeitsvorstellungen, Gewaltmedienkonsum, Freundesgruppenkultur) vermittelten, Gewalt senkenden Einfluss der Religiosität gesprochen werden.
(KFN, Forschungsbericht Nr. 109, S. 118)
Ganz entscheidend ist bei dieser zentralen Aussage der Hinweis auf den nicht signifikanten Zusammenhang zwischen religiöser Bindung und Gewaltbereitschaft; stattdessen seien als indirekte Einflussfaktoren für die erhöhte Gewaltbereitschaft muslimischer Migranten Männlichkeitsnormen und der Konsum gewalthaltiger Medien auszumachen.
Der Bildblog weist in dem Beitrag „Macht der Islam Jugendliche gewalttätig?“ darauf hin, dass eine plakative Berichterstattung zu Lasten einer genauen Rezeption der Studienergebnisse geht. Größter Patzer unterläuft dabei der Süddeutschen Zeitung (und/ oder Christian Pfeiffer???). Hier ist zu lesen:
„Doch selbst wenn man diese Faktoren herausrechnet, bleibt ein signifikanter Zusammenhang zwischen Religiosität und Gewaltbereitschaft“, sagt der federführende Autor, Christian Pfeiffer.
(„Die Faust zum Gebet„, Süddeutsche Zeitung)
Angesichts solcher verkürzten Schlussfolgerungen verwundert es nicht, wenn islamische Religionsangehörige und -verbände sich entrüstet zeigen. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland kritisiert die Studie in einer Pressemitteilung scharf:
Wie vor zwei Jahren mit der vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebene Studie „Muslime in Deutschland“ (Prof. Wetzel) [sic! Die Verfasser der besagten Studie sind Dr. Katrin Brettfeld und Prof. Dr. Peter Wetzels] erliegen die Macher der Versuchung mit soziökonomischen [sic!] und bildungspolitischen Erklärungsversuchen zu geizen und stattdessen monokausal „den Islam“ als Begründung ins Feld zu ziehen.
Bei allem Verständnis für die Kritik an den Medienberichten ist diese scharfe Form der Kritik seitens des Zentralrates m.E. unangemessen. Die Autoren des KFN-Berichtes belegen in Ihrem fast 140 Seiten langen Abschlussbericht ihre Thesen ausführlich. Auch das Bemühen, weitere Studienergebnisse des Religionswissenschaftlers Dr. Raulf Ceylan zur Erklärung heranzuziehen, stößt nicht auf die Anerkennung seitens des Zentralrates der Muslime. Ceylan argumentiert, dass die mangelhafte Integration türkischer Muslime in Deutschland auch auf den Einfluss der Imame zurückzuführen sei.
Die Imame sind insoweit mitverantwortlich, als sie der Gewalt und anderen Problemen entgegenwirken können. Dazu müssen sie das Problem aber erkennen, und da hakt es, weil viele Vorbeter kein Deutsch sprechen und nur für einige Zeit aus dem Ausland kommen.
(„Dem Mann wird die dominierende Rolle zugesprochen.„, Süddeutschen Zeitung“)
Sicherlich ist es legitim, Kritik an den jetzt publizierten Ergebnissen der KFN-Studie zu äußern (und öffentliche Äußerungen wären ohne Sparpläne, Koalitionskrisen und das derzeitig allgegenwärtige Klingen der Vuvuzela-Tröten [editiert am 18.06.2010] sicherlich lauter wahrnehmbar gewesen); aber die Studienergebnisse als reines „Islam-Bashing“ abzuwerten, wird der Sachlage mit Sicherheit nicht gerecht.
Weitere Informationen zum Thema:
Brettfeld, K. & Wetzels, P. (2007). Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Ergebnisse von Befragungen im Rahmen einer multizentrischen Studie in städtischen Lebensräumen. Berlin: Bundesministerium des Inneren. (Informationen zum Projekt und Download des Abschlussberichts)
P.S.: Mir ist durchaus bewusst, dass auch ich (trotz meiner anklagenden Worte zu Beginn des Artikels) der Fokussierungsfalle nicht entkommen bin und mich auf nicht einmal ein Viertel der im Forschungsbericht aufgeworfenen Fragen und Themen beschränkt habe. Als kleine Wiedergutmachung für dieses Versäumnis kann ich immerhin noch allen grundsätzlich Interessierten (die aber keine Zeit und Muße haben sich durch 300 Seiten Statistik zu kämpfen) den Hinweis geben, sich den interessanten Exkurs ab Seite 207 zu Mobbing unter Jugendlichen und mögliche Folgen durchzulesen.
Andreas P. schreibt
Vielen Dank, Christian, für diesen Hinweis samt Kommentar. Übrigens heißen die Dinger Vuvuzelas ;-). Mit der Religiosität ist das ja so eine Sache. Statistiken zur Auswirkung von Religiosität erinnern mich an einen Vergleich, den Bismarcks Leibarzt Schweninger im Hinblick auf den Begriff der Krankheit gefunden hatte: Krankheiten behandeln zu wollen sei so verrückt, wie etwa die Gründung einer Käsefabrik zur Ausbeutung der Milchstraße. Es handelt sich jeweils lediglich um abstrakte Zusammenfassungen von Erscheinungen, die dann quasi mit eigenem Leben ausgestattet werden. Interessant ist da vielleicht Max Webers Religionssoziologie, die die sozialen Bezüge bestimmter Arten von Religiosität differenziert, indem etwa der (asketischen) Protestantismus eschatologischen (aufs Ganze bzw. auf die letzen Dinge bezogenen) Religionen wie dem Katholizismus oder dem Judentum gegenübergestellt werden. Wenn man hingegen das „Christentum“ dem „Islam“ gegenüberstellt, gehen solche Differenzierungen völlig verloren. In Deutschland etwa gab es im 19. Jahrhundert einen „Kulturkampf“ zwischen Protestanten und Katholiken. Probleme ergeben sich nicht aus der Gewalthaltigkeit einer Kultur oder Religion, sondern aus unterschiedlichen Bedeutungs- und Sozialstrukturen und damit verbundenen Menschenbildern. Es geht wohl vor allem um die Art des Weltverhältnisses, das zwischen Trennung und Verbindung oszilliert. Wie schon in der Bibel steht, sieht man eher den Splitter im Auge des anderen, als den Balken im eigenen.
Solche kulturellen Unterschiede können vielleicht auch maßgeblich sein beim kürzlichen Rücktritt des aus dem katholischen Polen stammenden Bundespräsidenten Köhler und dem Unverständnis im protestantischen Berlin, dem so etwas als „dünnhäutig“ gilt. Damit wird zugleich relative Unempfindlichkeit (oder Stumpfheit?) als Norm gesetzt.
Andreas P. schreibt
Die Neubegründung von Religionen hatte scheinbar immer etwas mit der Dekadenz etablierter Systeme zu tun, mit dem Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit. Die Rückbindung an ein Gut soll somit eine Art archimedischen Punkt bereitstellen, der Protest gegenüber einem Schein ermöglicht, der das Sein nicht transzendiert, sondern ururpiert. Das Äußere bietet keine Orientierung mehr, so wird danach im Inneren gesucht. Eine Religion ist somit nichts Statisches, das als „Faktor“ ausreichend beschrieben werden kann. Das Christentum zur Zeit des Paulus ist ein anderes, als das Christentum zur Zeit Luthers. Ebenso ist es mit dem Judentum oder dem Islam. Wenn die Studie darauf verweist, dass starke religiöse Orientierung lediglich bei protestantischer Religiosität mit einer leicht verbesserten Integration einhergeht, so sagt das meiner Ansicht nach nichts über den Protestantismus als solchen aus, sondern bestätigt Max Webers These von der Dominanz des Protestantismus in der westlichen Kultur – nicht als „Folklore“, sondern als Struktur. Persönlichkeits- und Sozialstruktur stimmen etwa bei protestantischen Immigranten am besten überein. Insofern ist es sicherlich interessant, sich ältere kriminologische Konzepte anzusehen, die sich mit der kriminologischen Relevanz von Kulturkonflikten auseinandersetzen.
Umut S. schreibt
@Christian
Auch von mir ein Dankeschön für den gelungenen Beitrag. Ich verstehe durchaus deine Kritik an den Äußerungen des ZMD und stimme dir im wesentlichen auch zu. Jedoch möchte ich an dieser Stelle hinzufügen, dass diese konfrontativen Äußerungen die lauten Schreie einer Gemeinschaft sind die vergeblich gegen die westliche Öffentlichkeit und Medienwelt kämpfen um das Bild der Muslime ins positive zu rücken. Ich möchte hier nicht allzu weit ausholen, aber 9/11 hat die muslimische Gemeinschaft vor allem in Europa in dieser Hinsicht sehr getroffen. Die Bilder der brennenden Türme haben die muslimischen Gemeinschaften in eine Situation versetzt, in der sie sich für eine Tat rechtfertigen mussten, die nicht zu rechtfertigen war. Die vielen Anklagen der westlichen Welt, ihre lautstarken politischen u. militärischen Kampagnen und die mediale Propaganda, im Namen der Freiheit und Sicherheit, welche mit nach eigenen Maßstäben objektiv legitimierbaren Gründen der moralischen Überlegenheit geführt werden, haben die Muslime der Welt in eine Erklärungsnot gebracht.
Die Apologetik als vernunftgemäße Verteidigung des eigenen Glaubens ist eine Denkart/Tradition des Christentums, die ihre Hauptaufgabe darin sieht, Anklagen von Außenstehenden zu verteidigen. Muslime in Europa und der westlichen Welt sind spätestens seit 9/11 beinahe täglich mit Anklagen und Vorwürfen konfrontiert. Ihre lauten Schreie, die nicht gehört oder immer wieder durch die hegemoniale Mediendominanz gegen sie gerichtet werden, sind verzweifelte Versuche einer zerspaltenen religiösen Gemeinschaf sich selbst ins richtige Licht zu rücken. Doch die flutartigen Berichte über Zwangsheiraten, Ehrenmorde, kriminelle muslimische Jugendliche, scheinbar sinnloser Gewalt und patriarchalen Strukturen und immer wieder die Debatten über die massive Unterdrückung der muslimischen Frau, insbesondere die Kopftuchfrage haben die muslimischen Gemeinschaften in Europa und auch den ZMD in einen Zustand versetzt, wo die Verteidigung der eigenen Religion gegen Anklagen von Außenstehenden zur wichtigsten Maxime wird. Einen auf Vernunft basierenden und offenen Austausch kann man unter diesen Bedingungen nur schwer erreichen. Die westlichen Protagonisten nutzen diesen Umstand und versäumen es nicht regelmäßig auf die Misstände in der Religion und Kultur des Islam hinzuweisen. Denn ein offener Austausch ist in vielen Bereichen gar nicht erwünscht. Die apologetische Haltung der Muslime in Deutschland und Europa macht einen konstruktiven Austausch unmöglich. Die Motivation zum Dialog darf nicht Rechtfertigung sein, es sollte der Wunsch nach einem ehrlichen und offenen Austausch dominieren, auch bei der nicht-muslimischen Mehrheit.
Doch durch die religiös-ethnische Semantik in den Diskursen werden reale Probleme aus dem sozialen Alltag auf einen Kulturkonflikt reduziert, so dass strukturelle Probleme und Misstände in täglichen Lebenswelten ignoriert und/oder negiert werden. Die muslimischen Gemeinschaften in Europa und andere Minoritäten mit Migrationshintergrund müssen sich von ihrer Opferhaltung emanzipieren und den ehemaligen Kolonialherren und Gastgebern als ebenbürtige Bürger dieser Gesellschaft gegenübertreten.
Die europäischen Mehrheitsgesellschaften müssen gleichzeitig ihren universalen Zivilisationsauftrag überdenken und den Gedanken der Superiorität aufgeben.
Zum Schluss möchte ich noch die Frage aufwerfen ob die Imame durch ihren Religionsunterricht Gewalt und Glauben in Zusammenhang setzen oder die westlichen Medien? Diese wiederum werden von den Schülern die Herr Pfeiffer u.a. befragt haben besonders häufig konsumiert.
Ingo D schreibt
Ein erfreulich differenzierter Artikel zu einem spannenden Thema.
Spätestens seit dem Hirschi behauptet, dass Jammern und Drängeln von Kindern das theoretische Äquivalent von Raub und Vergewaltigung seien, hat er sich in meinen Augen disqualifiziert.
Ich finde es erstaunlich, wenn die Aussagen von Hirschi in der Kriminologie „gemeinhin bis heute Gültigkeit“ beanspruchen und dass die Ergebnisse des KFN deshalb eine „kleinere Sensation“ sein sollen, weil sie den Annahmen von Hirschi & Co einer Konsensgesellschaft nicht entsprechen.