Vom 7.-9.5.2010 fand in Frankfurt im ehemaligen IG-Farben-Komplex eine Tagung unter obigem Titel statt. Gerade wegen der dort vertretenen kritischen Perspektive gegenüber der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung scheinen mir hier genügend Berührungspunkte zu einer sich kritisch verstehenden Kriminologie zu bestehen, um in diesem Blog über die Veranstaltung zu berichten.
Es ging auf der Tagung um die Möglichkeit einer psychoanalytischen Sozialpsychologie, also um eine Form von Interdisziplinarität, die sich nicht auf die Vergrößerung und Vereinheitlichung der zu verwaltenden Datenmengen unterschiedlicher Subdisziplinen unter der Ägide des logischen Empirismus beschränken will. Eigentlich ist sogar etwas ganz anderes angestrebt – nämlich die Rehabilitierung des Subjekts in der Wissenschaft bzw. der Perspektive gegenüber einer wie auch immer verstandenen Objektivität. Auf diese Weise soll gesellschaftlich erzeugte Unbewusstheit expliziert werden, wie sie – das möchte ich hinzufügen – auch geläufigen Wissenschaftspraktiken zugrunde liegen dürfte.
Etwas Ähnliches hatte ja auch schon die Kritische Theorie bezweckt und dies führt mich zu einem Kuriosum, das ich als Illustration zu diesem Tagungsbericht ausgewählt habe: ein Schreibtisch mitten auf einem Platz – Adornos Schreibtisch. Wissenschaft soll sich nicht hinter Programmen und Koeffizienten verstecken, sondern – um einen Ausdruck Husserls zu verwenden – zu „den Sachen selbst“ in Beziehung treten. Dass Wissenschaft dabei allerdings auf Schutz angewiesen ist, lässt sich an den Beschädigungen ablesen, die der durchsichtige Kasten um Adornos Arbeitsgerät aufweist. Angesichts der Totalisierung des „Kapitalismus“ und dem damit einhergehenden Kampf um Ressourcen auch im Bereich der Wissenschaft fragt sich aber, wie dieser Schutz aussehen könnte.
Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, geschäftsführende Direktorin des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, ging in ihrem Eröffnungsvortrag am Samstag auf die finanziellen Schwierigkeiten ein, die das Überleben dieser Einrichtung bedrohte. Ohne gewisse Zugeständnisse an den wissenschaftlichen Zeitgeist hätte das 50-jährige Bestehen des Instituts, welches den Rahmen für die Tagung abgab, nicht gefeiert werden können. Wie allerdings die psychoanalytische Prozessorientierung und das ubiquitäre Effizienzgebot miteinander vereinbart werden können – diese Frage kann ich mir allerdings auch nach der Tagung nicht beantworten. Eine Lösung wäre wohl nobelpreiswürdig. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die „Sorge um sich“ (Foucault) in absehbarer Zukunft – wie im antiken Griechenland – nur noch Begüterten offenstehen wird. Und das auch nur, soweit diese imstande sind, sich dem Teufelskreis der Sorge um das Geld zumindest zeitweilig zu entziehen.
Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl, Co-Direktor am Sigmund-Freud-Institut, ging es in seinem Beitrag um die Entwicklungsdynamik des gesellschaftlich vorherrschenden Sozialcharakters. Schamangst führt zu präreflexiver Anpassung – der „Highperformer“ wird zum Standard. Die damit verbundene Entfremdungsproblematik war schon am Abend zuvor Gegenstand des öffentlichen Vortrags von Prof. Dr. Rahel Jaeggi (HU Berlin) gewesen. Entfremdung versteht Jaeggi dabei als Deutungsmuster, in dem Selbst- und Weltverhältnis konzeptionell verschränkt sind und das durch Sinn- und Machtverlust gekennzeichnet ist. Mir schien sich hier ein Zusammenhang mit der Problematik der Scham zu offenbaren – Scham ist Gegenstand meines eigenen wissenschaftlichen Interesses, insbesondere in Bezug zu Gewalt. Aufgrund meiner Müdigkeit unterließ ich allerdings eine Beteiligung an der Diskussion und war froh, dass der Zürcher Psychoanalytiker Emilio Modena diesen Zusammenhang herstellte. Der Entfremdungsbegriff verweist allerdings auch darauf, dass das Subjekt nicht restlos in der Vergesellschaftung aufgegangen ist – oder um mit Huxley zu sprechen, nicht ausschließlich das will, was es soll. Das ist ein Ausgangspunkt für die Möglichkeit von Kritik.
Prof. Dr. Lilly Gast (Psychoanalytischen Hochschule Berlin) deutete die Psychoanalyse als das Andere der Sozialwissenschaft – eben nicht als Teil derselben. Das damit offenbar werdende „Zwischen“ – man mag hier an den Buberschen Ausdruck denken, ermöglicht differenzierte Perspektiven, die sich allerdings überlagern. Intersubjektivität wird so zur Voraussetzung von Interdisziplinarität. Bions Ausdruck „Binokularität“ kam mir hier in den Sinn und auch, dass man Freuds konkrete soziale Existenz vielleicht als das Andere der Psychoanalyse dekodieren kann.
Es gab weiterhin Panels, die ein solches Überlagern der Episteme konkretisierten: Psychoanalytisches Denken wurde für die Bereiche von Kultur, Politik, Sozialisation und Ökonomie fruchtbar gemacht. Immanent und zum Teil auch explizit gemacht ist hier allerdings die Kritik am „Rationalen Akteur“ und der Rekurs auf das, was Böhme und Böhme „Das Andere der Vernunft“ genannt hatten. So hat etwa Dr. Chiara Bottici (JWGU Frankfurt) auf die Relevanz politischer Mythen wie etwa den „clash of civilisations“ verwiesen. Auch die Möglichkeit politischer Einflussnahme vor dem Hintergrund einer „kritischen Theorie des Subjekts“ wurde – zum Teil kontrovers – diskutiert (Prof. Dr. Hans-Joachim Busch, Markus Brunner; Moderation: Dr. Angela Kühner). Weiterhin war beispielsweise die Reformpädagogik sowie die Trauer um die Ideale der 68-er Generation – oder die durch deren Verlust hervorgerufene Melancholie – vor dem Hintergrund der jüngsten Angriffe im Hinblick auf sexuelle Übergriffe durch Lehrer und Pfarrer Thema (Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth, Prof. Dr. Katharina Liebsch; Moderation: Prof. Dr. Johann August Schülein). (Parallele Vorträge, obwohl spannend, musste ich leider auslassen.)
Die Möglichkeit von Kritik wurde von Prof. Dr. Sighard Neckel (Universität Wien, Frankfurter Institut für Sozialforschung) in seinem Schlussvortrag relativiert, der am Beispiel der Kunst die Fähigkeit des Kapitalismus veranschaulichte, Protest und Kritik zu „endogenisieren“, sich zu eigen zu machen. Eine vergleichbare Deutung aus kriminologischer Sicht hatte kürzlich Prof. Dr. Susanne Krasmann in ihrem Beitrag zur letzten Sokrates Common-Session in Hamburg gegeben. Aus dieser Perspektive wäre hier weiterzufragen, ob insofern nicht Terrorismus und extreme Gewalt die einzigen Derivate des – wenigstens zum Teil – Nichtidentischen und Nichtintegrierbaren sind. Als solche sind sie freilich – auch wieder – dem Kapitalismus als dessen Bastarde komplementär verbunden – als Wiederkehr des Verdrängten, der Differenz. Aber vielleicht ist es auch wie bei den Knöllchen, die bereits im kommunalen Etat eingeplant sind.
Es gab auch eine Vortagung, die die Möglichkeit der Psychoanalyse als Forschungsinstrument adressierte. Eine gemeinschaftliche Textexegese (Prof. Dr. Hans-Dieter König) machte den Auftakt. Sodann stellten Doktoranten ihre Forschungsprojekte vor, sich selbst als Teil des Forschungsprozesses begreifend. Julia König ging von Adornos Kritik an der Subsumtion des Lebendigen unter starre Kategorien aus und berichtete über kindliches Trieb- bzw. Beziehungserleben im Kindergarten. Anke Prochnau hob am Beispiel des Gesprächs mit einem Hauptschüler das „szenische Verstehen“ und die Rolle des sozialen Orts des Sprechens der jeweils Beteiligten hervor. Christoph Schwarz berichtete über ethnoanalytische Gruppengespräche mit palästinensischen Jugendlichen. Weitere junge Wissenschaftler hatten während der Tagung Gelegenheit, sich und ihre Projekte vorzustellen.
Ich möchte nicht versäumen, auf den immer wieder im Fokus stehenden ersten Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, Alexander Mitscherlich, hinzuweisen. Einer der Referenten, Prof. Dr. Timo Hoyer, hat erst vor kurzem eine umfangreiche Biographie Mitscherlichs veröffentlicht. Neben Erich Fromm – und zum Teil auch Wilhelm Reich – kann er sicherlich als einer der Begründer der psychoanalytischen Sozialpsychologie gelten. Auch Namen wie Klaus Horn oder Peter Brückner fielen gelegentlich.
Die Vorträge wurden übrigens zum großen Teil von Auditorium-Netzwerk mitgeschnitten.
Das Ende der Tagung bestand in der Präsentation von Fotos, die während der Tagung zu diesem Zweck angefertigt worden waren. Das war etwas irritierend, weil vielleicht eine gewisse Diskrepanz zwischen den Abbildungen und ihrer Präsentation bestand. Aber Irritation ist immerhin auch der Ausgangspunkt von Wissenschaft.