Seit zwei Tagen ist auf der Videoplattform Vimeo ein Musikvideo der britischen Sängerin M.I.A. (Mathangi Arulpragasam) zu sehen. Das Video zu dem Song „Born Free“ wurde seither fast 300.000 Mal aufgerufen. Die Popularität verdankt der Clip (vermutlich) weniger dem musikalischen Arrangement als vielmehr der visuellen Umsetzung an sich. Im 9-minütigen Filmclip sind vermummte, amerikanische Polizei-/Militärkräfte zu sehen, die mit äußerster Gewalt in Wohnungen eindringen, Bewohner zusammenschlagen und rothaarige Jungen und Männer zusammentreiben. Diese werden in einem Polizeitransporter in die Wüste gefahren, dort verhört und schließlich exekutiert.
Die vom Regisseur Romain Gavras (der bereits bei dem umstrittenen Musikvideo Stress der Band Justice Regie führte) perfekt inszenierte Parabel ist ohne Zweifel als eine Form politischen Protestes zu interpretieren. Die Abzeichen auf den Uniformen der Aggressoren identifizieren die Polizisten als Amerikaner; eine naheliegende Interpretation wäre eine Analogie zum staatlichen Vorgehen gegen afghanische, irakische oder generell muslimische Männer zu ziehen (man denke an das jüngst durch WikiLeaks veröffentlichte Video „Collateral Murder“, in dem amerikanische Kampfhubschrauber scheinbar wahllos auf irakische Zivilisten feuern). In einer weitergehenden Interpretation obliegt es dem Assoziationsvermögen des Betrachters, die rothaarigen Menschen, die im Videoclip gezeigt werden, durch eine beliebige andere gesellschaftliche Minderheit zu ersetzen, die zu folk devils erklärt wird. (Dass der Veröffentlichungstermin des Videos nahezu mit der Verabschiedung einer Gesetzesnovellierung im Bundesstaat Arizona zusammenfällt, durch die illegale Einwanderer kriminalisiert werden, ist vermutlich Zufall.)
Der Videoclip zu „Born Free“ stellt ein anschauliches Beispiel für mögliche Wechselwirkungen und Interpretationsspiralen zwischen (Populär-)Kultur und Politik dar. War die Analyse solcher Zusammenhänge lange Zeit den Medien und Kulturwissenschaften vorbehalten, so rücken sie Kontext der zunehmenden Popularität der „Cultural Criminology“ auch in den Fokus der Kriminologie.
„Cultural Criminology thus provides criminologists the opportunity to enhance their own perspective on crime with insights from other fields, while at the same time providing for their colleagues in cultural studies, the sociology of culture, media studies, and elsewhere invaluable perspectives on crime, criminalization, and their relationship to cultural and political processes.“(Ferrell & Sanders: Cultural Criminology, 1995: 17)
Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Perspektive erscheint vor allem die Analyse des Zusammenhangs von Kunst, Konsumerkultur und Politik beachtenswert. Wie ist beispielsweise das aktuelle Musikvideo in der Tradition anderer Protestsongs und -bewegungen (z.B. Folkmusik, Politrock, John Lennons und Yoko Onos Bed-In, Live-Aid etc.) zu verorten? In welchem Zusammenhang stehen die explizite Darstellung von Gewalt, Sex und Drogengebrauch und die breite Rezeption des Videos? Bedarf es Tabubrüche, um in der Medien-gesättigten Welt Aufmerksamkeit zu erzielen? Und wenn ja, wo liegen diese Bruchlinien in einer postmodernen Medienlandschaft, in der jedermann zu jeder Zeit und von jedem Ort aus über das Internet Zugriff auf alle erdenklichen Art der Darstellung von Gewalt und Sex hat? Auch die Beziehung zwischen Kommerzialisierung eines Kunstproduktes und seiner politischen Aussage eröffnet ein spannendes Themenfeld. Bei einer Laufzeit von über neun Minuten und den gezeigten Gewaltexzessen, ist ausgeschlossen, dass das Musikvideo im Musikfernsehen zu sehen sein wird. Aber vielleicht sind es gerade der Affront gegen die Spielregeln des Kulturbetriebes und das kalkulierte Spiel mit geltenden Pietätsvorstellungen, durch die die Künstlerin und ihr Produkt Glaubwürdigkeit verleiht. Die große Anzahl der Zugriffe auf das Video ist mit Sicherheit Ausdruck einer Neugier, die durch die Zensur (Bei YouTube sucht man beispielsweise das Video vergeblich, da es anscheinend gegen die Nutzerbedingungen verstößt. Gewalt staatlicher Akteure, wie das oben zitierte Video Collateral Murder – darf hingegen scheinbar gezeigt werden). Eine hermeneutische Analyse müsste ergämzend auch noch nach dem Zusammenhang zwischen der srilankischen Herkunft der Sängerin und dem politischen Engagement ihres Vaters in einer paramilitärischen Freiheitsbewegung fragen.
In Anlehnung an die Theorietradition des Symbolischen Interaktionismus‘ weist die Cultural Criminology Symbolen eine große Bedeutung zu: Style (das Wort Style erscheint in diesem Zusammenhang treffender als die deutsche Übersetzung Stil) als Ausdruck (sub-)kulturell geteilter Werte und Vorstellungen. Kulturelle Symbole sind Träger von Geschichte einer (Sub-)Kultur und können nur mit dem Wissen um diese dechiffriert werden (also z.B. die Sicherheitsnadel, die von Anhängern der Punkkultur als Körperschnuck getragen wird oder das Graffiti, das das Gebiet einer Gang markiert).
„This notion of collective imagery, and the collective production of shared symbolism and meaning, points to a second theme woven into cultural criminology: style. As artists and musicians run afoul of obscenity statutes and those that choose to enforce them, as street cops find fault with the sagging pants or shaved heads of gang members, they collectively engage in ‚crimes of style‘ — crimes which reveal the power of shared styles in constructing not only criminal identity, but legal authority and the boundaries of social control.“
Ferrell: Culture, Crime, and Cultural Criminology. Journal of Criminal Justice and Popular Culture, Vol. 3 (2), 1995: 33.
Die gesamte Inszenierung des Video zu „Born Free“ stützt sich auf die kollektive Vorstellung (auch hier erscheint der Ausdruck im englischen Original passender: collective imagery) von Rothaarigen. Es sind zumeist gesellschaftlich negativ konnotierte Erinnerungen und Vorstellungen, die mit rothaarigen Menschen in Verbindung gebracht werden: von rothaarigen Hexen, raubmordenden Wikingern, dem Serienmörder Dexter (in der gleichnamigen Fernsehserie) bis hin zu rothaarigen Frauen, denen eine ausschweifende – gegen puritanisch geprägte Sexualnormen verstoßende – Sexualität zugeschrieben werden (zwei Beispiele aus der jüngeren Populärkultur sind Jessica Rabbit und die musikalische Hommage von Bruce Springsteen an Rothaarige, die den „dirty job“ erledigen.)
Wenn die in Kufiya vermummten, rothaarigen Untergrundkämpfer im Videoclip Steine gegen die Polizisten schleudern und ein politisches Mural („Our Day Will Come“) von der Kamera erfasst wird, ist dies nicht nur als Hinweis auf den Palästinenserkonflikt zu verstehen, sondern ruft auch die kollektive Erinnerung an eine jahrhundertelange Stigmatisierung von Rothaarigen ins Gedächtnis. Zum Abschluss möchte ich noch – als Beleg für die Vielschichtigkeit kulturwissenschaftlicher Analysen) auf ein Video eines Mobilfunkunternehmens hinweisen, dass ebenso wie das hier besprochene Musikvideo die Stigmatisierung von Rothaarigen thematisiert; allerdings ist hier die Zuschreibung ins Gegenteil verkehrt und nicht Leid und Unrecht, sondern die Darstellung von Solidarität und Gemeinschaft Gefühl soll den Verkauf von Mobiltelefonen befördern:
https://www.youtube.com/watch?v=eBm51s0fVD0