Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe erklärte in einem heute ergangenen Urteil die Praxis der sogenannten Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig. Nach der 2008 umgesetzten Richtlinie des Rats der Europäischen Union waren Telekommunikationsanbieter verpflichtet, sog. Telekommunikationsverkehrsdaten ihrer Kunden für sechs Monate zu speichern. Die Speicherung von E-mail- und Telefonverbindungsdaten soll bei der Ermittlung und Verfolgung schwerer Verbrechen dienlich sein. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei bei dieser vorsorglichen, verdachtsunabhängigen sechsmonatigen Speicherung der Telekommunikationsdaten nicht gewahrt und stelle einen Verstoß gegen das Fernmeldegeheimnis dar, so die Verfassungsrichter.
In den Leitsätzen des Urteils heißt es:
- Eine sechsmonatige, vorsorglich anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten durch private Diensteanbieter, wie sie die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 (ABl L 105 vom 13. April 2006, S. 54; im Folgenden: Richtlinie 2006/24/EG) vorsieht, ist mit Art. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar; auf einen etwaigen Vorrang dieser Richtlinie kommt es daher nicht an.
- Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die gesetzliche Ausgestaltung einer solchen Datenspeicherung dem besonderen Gewicht des mit der Speicherung verbundenen Grundrechtseingriffs angemessen Rechnung trägt. Erforderlich sind hinreichend anspruchsvolle und normenklare Regelungen hinsichtlich der Datensicherheit, der Datenverwendung, der Transparenz und des Rechtsschutzes.
- Die Gewährleistung der Datensicherheit sowie die normenklare Begrenzung der Zwecke der möglichen Datenverwendung obliegen als untrennbare Bestandteile der Anordnung der Speicherungsverpflichtung dem Bundesgesetzgeber gemäß Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG. Demgegenüber richtet sich die Zuständigkeit für die Schaffung der Abrufregelungen selbst sowie für die Ausgestaltung der Transparenz- und Rechtsschutzbestimmungen nach den jeweiligen Sachkompetenzen.
- Hinsichtlich der Datensicherheit bedarf es Regelungen, die einen besonders hohen Sicherheitsstandard normenklar und verbindlich vorgeben. Es ist jedenfalls dem Grunde nach gesetzlich sicherzustellen, dass sich dieser an dem Entwicklungsstand der Fachdiskussion orientiert, neue Erkenntnisse und Einsichten fortlaufend aufnimmt und nicht unter dem Vorbehalt einer freien Abwägung mit allgemeinen wirtschaftlichen Gesichtspunkten steht.
- Der Abruf und die unmittelbare Nutzung der Daten sind nur verhältnismäßig, wenn sie überragend wichtigen Aufgaben des Rechtsgüterschutzes dienen. Im Bereich der Strafverfolgung setzt dies einen durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht einer schweren Straftat voraus. Für die Gefahrenabwehr und die Erfüllung der Aufgaben der Nachrichtendienste dürfen sie nur bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für eine gemeine Gefahr zugelassen werden.
- Eine nur mittelbare Nutzung der Daten zur Erteilung von Auskünften durch die Telekommunikationsdiensteanbieter über die Inhaber von Internetprotokolladressen ist auch unabhängig von begrenzenden Straftaten- oder Rechtsgüterkatalogen für die Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und die Wahrnehmung nachrichtendienstlicher Aufgaben zulässig. Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten können solche Auskünfte nur in gesetzlich ausdrücklich benannten Fällen von besonderem Gewicht erlaubt werden.
(Quelle: Das Bundesverfassungsgericht)
Das Karlsruher Urteil tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft. Telekommunikationsanbieter sind verpflichtet, bisher gespeicherte Daten unverzüglich zu löschen.
Das Urteil wurde gemeinhin positiv aufgenommen. Die großen deutschen Medien äußern sich einhellig positiv zum gekippten Sicherheitsgesetz (s.u.). Kritiker mahnen aber zugleich, dass die Karlsruher Richter keineswegs die Vorratsdatenspeicherung an sich für verfassungswidrig erklärt hätten, sondern lediglich die derzeitige gesetzliche Umsetzung gekippt hätten. Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière kündigte heute bereits an, schnellstmöglich einen alternativen Gesetzesentwurf erarbeiten lassen zu wollen:
So geht es nicht, aber anders geht es. Und ich füge hinzu: Und so muss es dann auch gehen.
Aktivisten, z.B. aus Reihen des AK Stoppt die Vorratsdatenspeicherung, fordern daher die Abschaffung der EU-Richtlinie.
Weitere Informationen zum Thema
- Karlsruhe kippt Vorratsdatenspeicherung (tagesschau.de)
- Speichern ja, aber nicht so (Zeit.de)
- Vorratsdatenspeicherung verstößt gegen Verfassung (Spiegel Online)
- Telefonieren ist Privatsache (taz.de)
- Die zehn Gebote der Vorratsdatenspeicherung (Sueddeutsche.de)
- Schöne alte Welt (FAZ.net)