Heute wäre der Soziologe David Riesman 100 Jahre alt geworden. Er ist mit einer Typenlehre bekannt geworden, die drei Charaktere beschreibt: den traditionellen, den innengeleiteten und den außengeleiteten Menschen. Differenzen mit dem impliziten Selbstveständnis rufen im ersten Fall Scham, im zweiten Schuld und im dritten Angst hervor. Der außengeleitete Typ wird dabei unserer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft zugeordnet.
Dieses Schema gibt mir Anlass, ein paar Worte zum Thema Gewaltprävention zu verlieren. Ich war letzte Woche auf einer kriminologischen Tagung in Gießen, die sich unter anderem mit dem Thema Jugendgewalt beschäftigte. In dem Bereich wird – trotz auch hier geäußerter Kritik (Manuel Eisner) – überwiegend auf kognitiv-behaviorale Programme gesetzt, die offenbar optimal auf den außengeleiteten Typus abgestimmt sind. Nur braucht dieser die Programme gar nicht, da er ohnehin an die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse optimal angepasst ist. Wenn dann nicht viel herauskommt muss man sich nicht wundern. Bei Gewalttaten scheint mir eher der schambestimmte traditionelle Typus einschlägig zu sein, der durch solche instrumentellen Vorgehensweisen nur noch mehr Scham ausgesetzt ist. Der Staat will aber gern ein Programm wie bei einer Autoreparatur, das kontextunabhängig das gewünschte Ergebnis – Gewaltfreiheit produziert. Ich drehe mal hier an einer Schraube und schon habe ich das gewünschte Produkt – hier die Gewaltfreiheit. Um Forschungsgelder zu bekommen, muss man offensichtlich die Quadratur des Kreises versprechen.
Christian schreibt
Ich bin auf der Suche nach Informationen zu David Friedman über den Nachdruck des Interviews What The Beatles Prove About Teen-agers in U.S. News & World Report aus dem Jahr 1964 gestoßen:
http://www.usnews.com/articles/news/national/2008/05/16/what-the-beatles-prove-about-teen-agers.html
Befragt zu dem frenetischen Verhalten von zumeist jugendlichen Fans der Beatles antwortet Friedman:
Nach einer „Lösungsstrategie“ für die jugendliche Massenhysterie befragt, fällt seine Antwort sehr kurz und pragmatisch aus:
Beim Lesen des Interviews habe ich mich gefragt, ob man diese Antworten auch gelten lassen könnten, wenn nicht das Verhalten von Jugendlichen in den 60er Jahren, sondern von Jugendlichen im Jahr 2009 gesprochen wird.
Eine offensichtliche Parallele ist zumindest, dass Jugendliche und ihr Verhalten auf Erwachsene fremd und beängstigend wirken und die „erwachsene“ Gesellschaft auf der Suche nach Lösungen ist. Dieses Phänomen ist zu allen Zeiten präsent (gewesen) nur die konkreten Verhaltensweisen ändern sich.
Sind also Gewalttaten jugendlicher Schläger als adoleszente Protestreaktion und ein Versuch der Abgrenzung von der Welt der Erwachsenen zu verstehen?
Die Erklärung ist zumindest unbefriedigend; denn hierdurch wird nicht erklärt, warum die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden nicht zu Gewalttätern werden.
Ist der Vergleich an den Haaren herbeigezogen? Oder lohnt es sich, diesen Gedanken fortzuführen (vielleicht den Gewaltbegriff weiter zu fassen: z.B. selbstverletzendes Verhalten – vornehmlich – junger Frauen, psychische Gewalt, Vandalismus etc.)?
Was meint ihr?
Andreas P. schreibt
Laut Paul Watzlawick soll es eine 3000 Jahre alte Steintafel geben, auf der ähnliche Meinungen über die damalige Jugend vertreten werden, wie sie auch noch heute aktuell sind. Er hat einmal einen Vortrag gehalten mit dem Titel, „Wenn die Lösung das Problem ist“ und das spricht auch aus dem Riesman-Zitat. Vermutlich sind vielen Erwachsenen die Empfindungen nicht mehr präsent, die sie als Kind gehabt haben. Es gibt ja diesen Mythos, dass bloße Überwachung alles bessert. Es gibt aber z.B. Studien von Stattin und Kerr, die zeigen, dass es nicht die Überwachung durch die Eltern ist, die zu weniger Delinquenz führt. Stattdessen ist es die Qualität der Beziehung, die Kinder dazu bringt, sich ihren Eltern mitzuteilen.
Ich bin mir auch nicht sicher, ob das Phänomen der Abgrenzungsbedürftigkeit von Jugendlichen zwangsläufig ist. Ich kenne auch den Fall, wo der Vater in einer Punkband spielt und sein Sohn ebenso – allerdings nicht in derselben :-). Beide sind bzw. waren auch aktiv im Fußball und haben andere Gemeinsamkeiten.
Bei dem Bedürfnis nach starker Abgrenzung steht sicherlich noch etwas anders dahinter. Vielleicht konnten Kinder, die als Jugendliche keine starken Abgrenzungsbedürfnisse hatten, ihre – relative – Autonomie schon wesentlich früher etablieren – im Kleinkindalter etwa. Bei anderen findet man vielleicht eine angstbedingte Überanpassung.
Vor Jahren hatte einmal ein 12-Jähriger seine Eltern erschossen (Anlass waren, soweit ich mich erinnere, die Vorstellungen der Eltern über die weitere schulische Entwicklung ihres Kindes). Er war immer so nett gewesen, wie die Bekannten und Nachbarn später angaben.
In dem Fall des Ansbacher Amoklaufs wurden Schriftstücke des Täters in seinem PC rekonstruiert. Da hieß es dann, Menschenhass wäre das Motiv – so ein Unsinn. In der Regel dürften diese Leute gar nicht wissen, was sie antreibt bzw. was der Hass bedeutet. Unter anderem hätte er Angst gehabt, sein Abitur nicht zu schaffen. Diese Befürchtung entspräche aber laut der ermittelnden Staatsanwältin nicht seinen tatsächlichen Leistungen. Mit einer solch rationalistischen Betrachtung kommt man aber nicht weiter. Die tatsächlichen Existenzängste dieser Jugendlichen werden offenbar nicht genügend ernst genommen.