Ulrich Eisenberg hat vergleichsweise frühzeitig das Verhalten von Staatsführungen kriminologisch erfasst und systematisch eingeordnet. Er ist dabei mit seinen Beispielen aus der NS-Zeit und anderen totalitären Regierungssystemen ein wenig eingeschränkt, trotzdem haben seine Ausführungen noch heute Relevanz und helfen das kriminelle Verhalten von Staatsführungen systematisch zu analysieren und zu verstehen. Henning Ernst Müller hat mit seinen Ausführungen in der Festschrift zum 70. Geburtstag von Eisenberg gezeigt, dass der Ansatz zur Analyse von modernen Rechtsstaaten ebenfalls gut geeignet ist. Müller zeigt anhand des Beispiels der Gefangenenmisshandlung und Folter in Guantanamo und Abu Ghraib wie die Staatsführung der USA systematisch Rechtsüberschreitungen geplant und durchgeführt hat. „Staatsführungen als Tätergemeinschaften“ ist ein von Eisenberg geprägter Begriff, Herr Müller hat in seinen Zeilen gezeigt wie gut er auf die USA anwendbar ist. Ich werde im Folgenden versuchen deutlich zu machen, dass die Geschehnisse in der Türkei ebenfalls an die von Eisenberg und Müller beschriebenen Tätergemeinschaften erinnern.
„Ergenekon“ ist bereits seit Monaten das Schlagwort der türkischen Medien. Ergenekon: ein Wort das ich nicht kenne und – obwohl türkisch meine Muttersprache ist – zuvor noch nie gehört habe . Die Popularität dieses Wortes macht mich stutzig. Aufgetaucht mit den ersten Verhaftungen Mitte des letzten Jahres, ist es angeblich der Name einer Untergruppenorganisation. Die türkische Presse verlautet einstimmig Terrorgruppe! Ultranationalistische Kemalisten, Militärs, Laizisten und Islam- bzw. Erdogan-Gegner. Ihr Plan: der Sturz der Regierung, ihre Befürchtung: eine vollkommene Islamisierung der Nation, vielleicht aber auch der steigende Machtverlust und der drohende Absturz in die Bedeutungslosigkeit.
Der Name Ergenekon hat seinen Ursprung in einer Legende, die vom Zerfall und Wiederaufbau des Göktürkischen Reiches berichtet. Es wird gemeinhin als Ursprungsmythos der türkischen Stämme bzw. der heute existierenden türkischen Staaten betrachtet. Die Legende ist nach dem sagenhaften Tal benannt, in dem die fliehenden Göktürken Heimat und Zuflucht fanden. Diese panturkistische Märchenstunde hat sich in der heutigen Version zu einem aktiongeladenen Comic gewandelt. Ergenekon ist die dunkle Seite der Macht in dieser Geschichte und Erdogan treibt im Namen der Justiz die alte nationalistisch-kemalistische Elite mit seinen Jediritternin die Enge. Das Tal der Zuflucht bleibt ersehnt und herbeigewünscht.
Ergenekon, das sind heute ca. 100 hoch angesehene Gefangene: Vier-Sterne Generäle A.D., Journalisten, ehemalige Politiker, Polizisten und Privatleute hinter Gittern. Einige wenige wurden wieder entlassen, viele warten seit Wochen und Monaten auf eine Anklage. Täglich gibt es neue Eilmeldungen in den Nachrichtensendern des Landes. Waffenverstecke, vereitelte Bombenanschläge, geheime Dokumente, mitgeschnittene Telefonate und andere angebliche Fakten und Beweise. Die Ermittlungen der türkischen Justiz greifen um sich, die Staatsanwälte machen einen Rundumschlag und sie werden dafür gelobt. Die Regierung baut nach eigenen Angaben ihre demokratischen Institutionen aus, diese festigen die Demokratie des Landes und wollen die Rechtsstaatlichkeit stärken. Die Verhörtechniken des türkischen Militärs und der Geheimpolizei sind bekannt und berüchtigt, genau wie die Zustände in den Gefängnissen. Folter ist Programm. Jeder weiß es, aber keiner redet darüber.
Rechtsüberschreitungen, die durch mediale Propaganda vorbereitet und im Namen der Gerechtigkeit – die Staatsführung als Tätergemeinschaft – durchgeführt werden. Denn nach den vorgezogenen Wahlen im letzten Jahr, dem negativem Kopftuch-Urteil und dem abgewehrtem Parteiverbotsprozess, schlagen Erdogan und Co. zurück. Trotzig wie die Amerikaner um in der Sprache von Shermans „defiance theorie“ zu sprechen und die Paralellelen zum großen Vorbild zu verdeutlichen. Auch die massenmediale Gestaltung von Ergenekon erinnert an die Amerikaner. Müller weist in seinen Betrachtungen auf die TV-Serie “ 24“ hin, welche Foltermethoden heroisiert und mit Helden à la Hollywood die Effektivität von Folter Woche für Woche beweist und somit zur subtilen Legitimation beiträgt. 24 heißt auf türkisch „Kurtlar Vadisi“, nicht wirklich, aber zumindest das Pendant zum Amerikanischen Vorbild. Die Serie hält seit einer gefühlten Ewigkeit die Krone der türkischen Einschaltquoten, die Polizei berichtet zur Sendezeit einen signifikanten Rückgang an Vorfällen und die Istanbuler Taxifahrer -zumindest diejenigen, die nicht der Serie Verfallen sind – erzählen, dass in der zweistündigen Sendezeit am Donnerstag Abend der Verkehr ausnahmsweise mal nicht steht. Der anatolische Serienstar Polat Alemdar, ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter und mittlerweile Mafia-Boss sowie Unterweltgröße am Bosporus personifiziert die „Intransparenszone“, die der Staat (oder die Tätergemeinschaft) braucht um seine Ziele zu erreichen. Diese entsteht sobald legale Mittel nicht mehr ausreichen oder andere Instrumente effektiver erscheinen. Immer wenn die Legalitätsprinzipien verletzt werden und der Verursacher trotzdem beansprucht im Recht zu sein, ja vielleicht sogar der Meinung ist, im Namen der Gerechtigkeit zu handeln. Wenn eine geplante und somit bewusst durchgeführte Rechtsüberschreitung so konstruiert wird, dass die Verantwortlichen nicht für ihr kriminelles Verhalten belangt werden können, müssen sie im Bereich der Intransparenzzone stattfinden. Polat Alemdar wird nie erwischt und trifft meist auch die richtigen Bösewichte. Wilde Verfolgungsjagden und Kugelhagel beherrscht er im Schlaf, fast wie ein türkischer 007. Das Volk liebt, verehrt und bewundert ihn, auch seine brutalen Methoden und die vielen Toten werden nicht hinterfragt, sondern bejubelt. Der Kinofilm brachte Polat und somit die Intransparenszone in den Irak -> grenzüberschreitende kriminelle Handlungen par excellence. In Deutschland wurde der Film zunächst zensiert und bald danach abgesetzt. „Antisemitisch und gewaltverherrlichend“ lautete das Urteil der Behörden. Die Serien-Fans aus der Diaspora waren anderer Meinung, tosender Beifall im Kinosaal war nicht selten und heute gehört die DVD genau wie die gesamten 6 Staffeln aus der Serie zu jedem ordentlichen türkischen Haushalt. Ca. Sechs Monate nach der Kinopremiere marschierten tausende türkische Soldaten in die nordirakische Intransparenszone. Der Staat greift durch!
Im siebten Jahr seiner Amtszeit beginnt Erdogan langsam, die Fäden der staatlichen Institutionen in die Hand zu kriegen. In den letzten Jahren wurden viele Beamte und Diplomaten, Richter, Militärs und Rektoren, viele bürokratische Hürden wurden überwunden. Aber das Trommelfeuer aus der Opposition reißt eigentlich kaum ab, im Strudel der weltweiten Finanzkrise und der Hetzjagd nach Ergenekon sowie dem allgegenwärtigen geostrategischen Standort, welcher in seiner Brisanz schon immer einem Pulverfaß ähnelte, hat Erdogan viel zu tun. Die außenpolitischen Aktivitäten sind gestiegen, der Erfolg, die Belastung und die Verantwortung bringen viel Stress mit sich. Dieser Stress ist hin und wieder mit legalen Mitteln nicht zu bewältigen und immer dann greifen Erdogan und Co. auf nicht legitime Mittel zurück. Egal ob es sich hierbei um strukturelle Gewalt, Täuschung oder gezielte Folter handelt.
Eisenbergs Analyse sieht im kriminellen Verhalten von Staatsführungen viele Ähnlichkeiten zum organisierten Verbrechen. Es scheint so, als ob Erdogan und seine Regierung nach sieben Jahren den Markt beherrschen, ihre quasi Monopolstellung bestätigt Tittles Kontrollüberschuss-Hypothese. Es kommt zunehmend zu kriminellen Handlungen durch staatlich organisierte Institutionen. Die türkische Regierung als Tätergemeinschaft. Mein Vorwurf: Angriffskrieg, Folter, unrechtmäßige Verhaftungen und willkürliche Gewalt gegenüber dem eigenen Volk. Oder kurz: Machtmissbrauch.
– Regierungen als Tätergemeinschaften –