von Andrea Kretschmann und Walter Fuchs
1. Akt (irgendwann in den 50er Jahren)
Chor der WissenschaftlerInnen der Westlichen Welt: (Kopfschütteln, Murren)
DDR-Wissenschaftler 1: (mit ausgeleertem Kopf): Was sollen wir schreiben? Hat jemand Genossen Ulbricht gesehen?
DDR-Wissenschaftler 2: —– (plötzliche Kriminologie-Amnesie seit 1949)
Ulbricht (machthaberisch): Wir brauchen keine Kriminologie mehr. Das Problem wird sich bald schon von selbst erledigen. Wir schwimmen in einer Lösung von historisch-materialistischen Partikeln, die noch Rudimente von Residuen von Relikten der alten Gesellschaftsform aufweist. Kriminalität existiert nur noch als kapitalistisch-imperialistischer Rest, als Produkt falschen Bewusstseins. Bald schon wird sich das gesellschaftliche Fahrwasser durch stetige Zugabe von immer realerem Sozialismus selbst erneuern.
DDR-Wissenschaftler 3: Dann ist die Kriminalität dem Sozialismus wesensfremd?
Ulbricht (gönnerhaft): Sie sagen es, Genosse. Unsere neue Republik ist nur momentan noch im Aufbau, noch nicht ganz ausgereift. Deshalb leiden einige unserer Genossen und Genossinnen unter den Effekten der früheren Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
John Lekschas (die linke Faust erhoben ballend): Auf den Müll mit der Kriminologie! (plötzlich eine Eingebung habend) Werft sie über den antifaschistischen Schutzwall! Weg mit dieser Zweckkonstruktion reaktionärer Justizpolitik!
Ulbricht (Lekschas auf die Schulter klopfend): Weiter so Genosse, weiter so! Die Einrichtung einer eigenständigen marxistischen Kriminologie ist überflüssig. Denn die sozialistische Strafrechtswissenschaft gibt es schon, und die ist völlig ausreichend.
2. Akt (ein paar Jahre vergehen, der Winter geht, der Frühling kommt)
Lekschas (zu den anderen Wissenschaftlern): Meine Herren, hören sie gut zu: wie der verehrte Genosse Stalin bemerkte, gibt es einen verschärften Klassenkampf in der Übergangsperiode.
DDR-Wissenschaftler 1+2: Wissen wir doch längst. Wer kennt diese These nicht?
DDR-Wissenschaftler 3: (gähnend): Eine Klassenkampftheorie…
Lekschas: Kriminalität ist nichts anderes als ein Produkt sozialökonomischer Verhältnisse und gesellschaftlicher Konflikte. Sie ist somit ein Bestandteil der historisch-politischen Entwicklung. (mit Nachdruck) Wir vertreten von jetzt ab einen materialistischen Ansatz! (brüllend) Wir werden diese Antagonismen dialektisch aufheben!
DDR-Wissenschaftler 2: Genial! Dafür bekommen wir eine Auszeichnung vom Zentralkomitee!
Chor der WissenschaftlerInnen der Westlichen Welt: (hinter der Grenze, unhörbar): Aber Kriminalität ist doch ein vieldimensionales, komplexes System!
(singend, im Brecht-Stil)
Wo werden die Widersprüche im sozialistischen System bedacht? Wonach richtet sich der Blick? Wohin geht ihr? Wohin? Wohin?
Wo ist bei euch das Individuum? Wo kann jemand austreten aus der sozialistischen Fabrik? Wonach richtet sich der Blick? Wohin geht ihr? Wohin? Wohin?
(Der Wind trägt den Schall nach Dresden und Ost-Berlin, wo Lekschas und DDR-Wissenschaftler 2 bei einer Tasse West-Kaffee sitzen)
Lekschas und DDR-Wissenschaftler 2: (halten sich die Ohren zu)
3. Akt (60er Jahre)
(Vortragssaal, Humboldt-Universität, Ost-Berlin)
DDR-Wissenschaftler 2: Was machst du, Genosse?
DDR-Wissenschaftler 3: Ich nehme kurz mal das Stalin-Bild ab.
Lekschas (gehetzt den Raum betretend): Liebe Genossinnen und Genossen!
DDR-Wissenschaftler 3 (leise): Welche Genossinnen?
Lekschas: Es gibt Neuigkeiten! In unserer sozialistischen Übergangsgesellschaft sind wir theoretisch von Freunden und Feinden umgeben. Unsere Feinde müssen wir als Gegner des Umwandlungsprozesses im Auge behalten.
DDR-Wissenschaftler 3 (leise zu sich): Wie gut, dass ich ab nächstem Monat meine neue Stelle beim Ministerium für Staatssicherheit antreten werde…
Lekschas: Unsere Freunde sind leider Gottes…äh….hm…Entschuldigung…etwas ideologisch zurückgebliebene, schädlichen Einflüssen der Westzone ausgesetzte werktätige Bürger unseres Arbeiter- und Bauernstaates.
DDR-Wissenschaftler 1: Zu deren Besserung müssen wir erstmalig auch konkrete, empirische Untersuchungen der realen Lebensbedingungen im realen Sozialismus durchführen.
DDR-Wissenschaftler 2: Wir erforschen die Ursachen, indem wir Bewusstseinserforschung betreiben.
Lekschas: Sehr gut, Genossen!
Westlicher marxistischer Kriminologe (hinter der Mauer lauschend, schmerzhaft das Gesicht verziehend): Reduktion! Reduktion!
(Vorhang)
4. Akt: (80er Jahre)
(Akademie der Wissenschaften der DDR, Saal mit Parteigenossen)
DDR-Wissenschaftler 2: Die Kriminalität im ganzen wie auch die einzelne Straftat ist eine individualistische, spontan-anarchistische, sozialnegative, destruktive Äußerung von Individuen, die nur in einer sehr vermittelten, von vielen Zufälligkeiten überlagerten Beziehung zu den gesellschaftlichen Grundprozessen stehen.
Lekschas (vorsichtig): Aber auch im Sozialismus bleiben die Widersprüche zwischen den Interessen der Gesellschaft und denen der Persönlichkeit fortbestehen, obwohl sich diese Interessen grundsätzlich decken. In der Übergangsphase des Sozialismus bestehen soziale Unterschiede noch weiter…
DDR-Wissenschaftler 1 (empört): Sozialistische und bürgerliche Kriminologie sind unvereinbar wie Feuer und Wasser!
DDR-Wissenschaftler 2 (entrüstet): Kriminalität ist ein dem Sozialismus wesensfremdes Phänomen!
Chor der Parteigenossen (skandierend): Wesensfremd! Wesensfremd! Wesensfremd! Wesensfremd!
Lekschas: (verlässt den Raum und wirft sein Buch „Sozialistische Kriminologie“ über die Mauer, kehrt zurück und stimmt mit ein): Wesensfremd! Wesensfremd!
Erich Honecker (im Hintergrund, aus dem Radio): Die Mauer steht noch 100 Jahre!
(Vorhang)
5. Akt: (Gegenwart)
(Universität einer deutschen Großstadt, Masterstudium für Kriminologie)
Sebastian S., Professor (lachend, mit Buch „Sozialistische Kriminologie“ von Lekschas): Wisst ihr, diese Bücher haben wir damals gelesen. Man musste sie allerdings immer so ein bisschen verkehrt rum halten, um die Fortschrittlichkeit in ihnen zu entdecken.
Thomas M.: Ich bitte Sie! Etwas mehr Respekt vor den Toten!
(Vorhang)