Kriminologen wissen im Allgemeinen um die Stärken und Schwächen von Kriminalstatistiken. Die jährlich in der Polizeilichen Kriminalstatistik präsentierten Zahlen bilden allenfalls das Hellfeld ab und selbst diese Zahlen sind vor dem Hintergrund unterschiedlich intensiver polizeilicher Ermittlungstätigkeit und der sich über die Jahre wandelnden Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung keine feste Größe, die es vermag, ein reales Abbild der aufgetretenen Kriminalität zu liefern.
Der Medienjournalist Stefan Niggemeyer, Grimmepreisträger und Mitbegründer des Bild-Blogs, berichtet aktuell auf seinem Blog von einem anschaulichen Beispiel dafür, wie eine ungenaue statistische Kennziffer (zur Entwicklung der Fälle von Kindstötungen in Deutschland) von renommierten Medien (wie beispielsweise von den Onlineausgaben von Spiegel, Welt und Zeit) aufgegriffen und unreflektiert zu dramatisch klingenden Meldungen stilisiert wird: Die Medien sind für mehr getötete Kinder.
Dabei stützen sich die Meldungen wie „Wöchentlich sterben drei Kinder gewaltsam“ (RP-Online) oder „Zahl gewaltsam getöteter Kinder steigt“ (Spiegel Online) allesamt auf eine Pressemitteilung des Bunds Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Herr Niggemeyer vermutet ein gezielt politisches Kalkül, wenn der BDK in seinem Vergleich Zahlen von Kindstötungen vor 10 Jahren aktuellen Zahlen gegenüberstellt – bei den aktuellen Fällen jedoch versuchte und vereitelte Tötungsakte mit hinzuzählt.
Ich meine, dass unabhängig der Frage nach einer bewussten Unterbreitung falscher Zahlen, hier ein schönes Beispiel präsentiert wird, von den Grenzen und Gefahren polizeilicher Kriminalstatistiken und der Arbeitsweise von Zeitungsredaktionen.
Darüber hinaus verweist dieser von Herrn Niggemeyer aufbereitete Fall auf ein sehr viel generelleres Problem, das mit Kriminalstatistiken und vor allem mit den Berichten über diese Zahlen verbunden ist. Die Soziologin Cremer-Schäfer wird in einem Artikel in der Cilip zum Thema Kriminalität und Kriminalitätsfurcht zitiert mit der Einschätzung:
Das Problem der gesellschaftlich organisierten Darbietung von ‚Kriminalitätsgefahren‘ und ‚Sicherheitsbedrohungen‘ liegt darin, daß durch eine inzwischen mehr als 20jährige Dramatisierung, nicht einmal mehr ein Wissen verfügbar ist, auf welche Probleme Kriminalitätsverhältnisse (oder auch Kriminalitätsstatistiken) hinweisen“. Aus diesem verlorengegangenen Wissen, so Cremer-Schäfer weiter, sei unterdessen die Unterstellung entstanden, die erfaßte Entwicklung von Kriminalität bzw. deren Bekämpfung, bestimme den moralischen Wert einer Gesellschaft, während die bestehende Ordnung unhinterfragt als richtig angesehen werde.